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Das Internet ist nichts und hat keinen Zweck


Die meisten Thesen zur Zukunft der Online-Welt versinken für mich schnell in der Bedeutungslosigkeit. Die New Clues von Doc Searls und David Weinberger hingegen werden mich noch lange begleiten.

Cluetrain Manifest 1999 – New Clues 2015
Die Verwendung des Worts Nachhaltigkeit hat sich abgenutzt, seine Bedeutung jedoch nicht. Wenn die Verfasser des Cluetrain Manifest, einer Thesensammlung zur Zukunft des Internets, mit ihren aktuellen „New Clues“ recht behalten – so wie in weiten Teilen schon einmal – platzt bald wieder eine Blase: Die der Online-Werbeindustrie.

 

Das Manifest: Angriff oder bloße Verteidigung?
Während der direkte bis drohende Ton der aktuellen „New Clues“ im Vergleich zum Cluetrain Manifest von 1999 gleich geblieben ist, hat sich doch die Perspektive verändert. Der aktuelle Text liest sich mehr, als stünden die Autoren mit dem Rücken zur Wand und weniger, als würden die Internetbewohner ihre Staaten und Unternehmen vor sich her treiben. Wenn die Vision der Autoren jedoch wahr wird und das Internet in seiner Entwicklung noch am Anfang steht, verschwinden irrelevante Botschafter mittelfristig in der Versenkung. Die aktuelle Leichenfledderei der Internet-Idee, die die Autoren zu Anfang der neuen Thesen kritisieren, bleibt dann nur als schmerzhafte, aber ungefährliche Jugendrauferei in Erinnerung.

 

Wer den Fortschritt bedroht, wird vom Zug überrollt
Die zentrale Theorie der Autoren war und ist, dass analoge, stark hierarchische Denkmuster im digitalen Zeitalter ausgedient haben. Wie die Verfasser bereits 1999 festgestellt haben, gehört das Internet den Menschen, die sich darin ausdrücken. Diese Art der Kommunikation auf Augenhöhe fordere von Unternehmen menschliche Gesprächskompetenz: In dem, was sie sagen, und wann sie besser nichts sagen. Das Zuhören, Zurückhalten und Vertrauen in Mitarbeiter läuft jedoch vielen klassischen Werbe- und Vertriebs-Strategien entgegen. Dass Marketing-Verantwortliche an ihnen weiter festhalten, bringt, wenn die Autoren mit ihrer Prognose des kritischen Internetnutzers recht behalten, Unternehmen in Verruf und damit in Gefahr. Und zwar alle Unternehmen, die Marketing betreiben oder mit Marketing-Unternehmen kooperieren.

 

 

Das Internet als herrenloses Allgemeingut
Die neuen und alten Thesen zusammenfassend sind die geltenden Werte im Internet Neutralität, Integrität und Freiheit – was viele Unternehmen noch immer irritiert, weil sie nach den Prinzipien Wettkampf, Selbstdarstellung und starren Regeln funktionieren. In der Beratung von Unternehmen erlebe ich noch immer, wie unterschiedlich einzelne Firmen auf den Kontrollverlust reagieren, den der neue Kommunikationsmodus auslöst. Die einen gehören selbst zu den Internetbewohnern und haben ihre Sprache verinnerlicht. Damit verändern sich auch die Unternehmen als Organisation, denn Offenheit macht vor dem Intranet und dem Umgang mit den eigenen Mitarbeitern nicht halt. Andere Unternehmen haben sich von ihrer bisherigen Position der Top-Down-Kommunikation keinen Millimeter entfernt. Viele Werbetreibende oder auch Verlage gehören zu dieser zweiten Gruppe.

 

New Clues, Nr. 107

 

Konkret: Verlage gehören zu den ersten Unternehmen, die sterben
Lasst mich die Essenz der Thesen auf eine konkrete Branche anwenden: Große Medienhäuser sind schon lange nicht mehr die einzigen Multiplikatoren, die Nachrichten formulieren und verbreiten. Vielmehr tun dies im weitesten Sinne alle, die online agieren. Die Inhalte des Internets sind in diesem Sinne nie exklusiv, sondern immer ein Produkt der Masse, die es hervorgebracht hat – auch wenn beispielsweise einzelne Journalisten Artikel schreiben und deshalb den maßgeblichen Hauptanteil an der Entstehung eines Artikels leisten. Wer Bezahl- oder sonstige Schranken aufbaut, verletzt das Grundprinzip des Teilens im Internet. Wer jedoch wertvolle Inhalte schafft, kann auch und gerade online damit Geld verdienen. Allerdings nicht mit den althergebrachten Top-Down-Bezahlstrategien des Prinzips friss (die ganze Ausgabe zu einem von uns definierten Preis) oder stirb. Der einzige der dann verliert, ist das Medium – nämlich Leser. Überleben wird, wer die Internetnutzer selbst entscheiden lässt, für welche Inhalte sie wie viel zahlen möchten und gleichzeitig unkomplizierte Bezahlwege anbietet. Gleichzeitig gilt es natürlich, gerade die Haupteinnahmequelle der Werbung ins Hier und Jetzt des Internets zu transportieren und nicht an umständlichen Vertriebs- und Einkaufsstrukturen aus der Printwelt festzuhalten.

Statt sich der Zukunft zu stellen, beharren die meisten Verlage jedoch auf den Strategien aus der Printwelt. Welchen Sinn hat es, auf einem Geschäftsmodell zu bestehen, dass nicht mehr funktioniert? Kein Supermarkt ließ sich eins zu eins ins Internet transportieren, keine einzige Schreibmaschine – und sei sie noch so hochwertig – ist heute noch in einer Redaktion in Betrieb. Was also hindert die Verlage bis heute, die Einnahmeseite komplett neu zu denken? Stattdessen geben sie mit aufgehübschtem, oft genug austauschbarem Content ihre zentrale Kompetenz und damit ihre Existenzberechtigung auf.

 

 

Harte Jobs machen hart – vielleicht zu hart für die Moderne
Denkt man die New Clues konsequent zu Ende, dürfte ein weiteres Beispiel für gefährdete Geschäftsfelder der Aktionsraum der Werbebranche sein. Werber stehen vor der Herausforderung, Produkte bei Käufern ins Bewusstsein zu rücken. Die Aufgabe kollidiert mit dem von den Autoren entworfenen Szenario, dass die Konsumenten weniger den Unternehmen als vielmehr der Empfehlung der Masse ihr Vertrauen schenken. Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung sagte der Manifest-Ko-Autor Doc Searls: „Werbung wurde furchtbar pervertiert, bis hin ins Unmoralische. Ein Geschäft würde mir niemals einen Sender auf die Schulter pflanzen, nachdem ich in ihm eingekauft habe. Im Web ist das Standard, und das ist einfach falsch. […] Die existierende Online-Werbung ist eine Blase. Und sie wird platzen.“

Das Klinkenputzen per Banner, Werbespot & Co könnte also in Zukunft noch mühseliger werden – oder aber plötzlich ganz entspannt, wenn die Beteiligten die Ruhe mitbringen, Werbung der Zukunft zu machen. Ein Gespräch mit dem Konsumenten entsteht den Autoren zufolge eben nicht daraus, den Konsument am Ärmel zu zupfen, wenn der nicht über das Produkt sprechen möchte. Der Interessent kommt vielmehr in Zukunft auf das Unternehmen zu und sieht sich nach den Produkten um, die ihn interessieren.

 

 

Die Gespräche auf Augenhöhe schaffen Transparenz in Politik und Unternehmen
Die Autoren der New Clues sehen neben aller Kritik einige positive Entwicklungen in den vergangenen 16 Jahren: Das Internet hat nicht nur Preislisten revolutioniert, es hat auch die Politik gezwungen, sich offener und häufiger zu erklären, oder eben Unternehmen, Produkte und Dienstleistungen transparent gemacht. Der Weg des Fortschritts ist – wenn auch noch nicht zu Ende gegangen – ein Weg der Kommunikation auf Augenhöhe. Werbung ist im Vergleich dazu oft noch zu wenig ein Miteinander, dafür aber zu sehr gewollt.

 

New Clues, Nr. 56

 

Wer auf welches Pferd setzt, muss jeder selbst entscheiden
Kurzfristige Strategien hübschen die Bilanz auf, setzen aber oft genug der nächsten Entscheider-Generation das Messer an den Hals. Alle Unternehmen, nicht nur Verlage oder Werber, müssen entscheiden, ob sie an ein künftiges Internet des schnellen Geldes oder des nachhaltigen Rufs glauben. Für Letzteres haben die Manifest-Verfasser einen einzigen, einfachen Merksatz: Sei echt, sei nachhaltig und sei gnadenlos in Deiner Selbstkontrolle, im richtigen Moment nichts zu sagen. Und wenn man schon nicht nichts sagen kann, kann man sich immerhin bemühen, anderen nicht auf die Nerven zu gehen.

 

Dieser Artikel ist, wie die New Clues, ein Open-Source-Dokument.  Jeder darf sich alles daraus zu eigen machen und benutzen, wie er möchte. Bitte verlinke aber mindestens auf die Ursprungsseite http://cluetrain.com/newclues/ sowie gerne auf diesen Artikel und meine Quellen.

Quelle New Clues: http://cluetrain.com/newclues/
Übersetzungen von: http://conceptbakery.de/blog/2015/01/11/new-clues-deutsche-uebersetzung-die-neuen-thesen-von-den-verfassern-des-cluetrain-manifest/
Cluetrain Manifest 1999: http://www.cluetrain.com/auf-deutsch.html



Über Andrea Petzenhammer

Andrea studierte Medien und Informationswesen und arbeitete in verschiedenen PR-Agenturen unter anderem mit Immobilien- und Finanzfokus. Aus ihrer Selbständigkeit bringt Sie den Blick für Unternehmensentwicklung mit. Bei den Frischen Fischen konzentriert sie sich auf Online-Marketing-Themen.


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