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Liebe Unbekannte! Über jugendliche Brieffreundschaften als Fingerübungen für die PR


Ich bin 50 Jahre alt. Meine erste Internet-Suche habe ich im Alter von 23 Jahren bei AltaVista durchgeführt. Die Suche nach meinem Nachnamen „Schwerk” führte dabei zu ein paar wenigen Treffern – alle zum Thema „Schwerkörperbehindert”. Meine erste E-Mail-Adresse habe ich dann mit 25 eingerichtet (salvadorsmusikimperium@hotmail.com). Zwischen meinem 10. und 25. Lebensjahr habe ich weit über 200 Mixtapes auf Kompaktkassette von TDK (niemals Maxell, Hashtag Bandsalat) zusammengestellt. Und die Handzettel für das erste Konzert unserer Band „Zappenduster” habe ich auf einem Matrizendrucker (auch als Spiritusdrucker bekannt) der Schule produziert. Wenn ich wissen wollte, ob meine Freunde gerade „in der Stadt” sind (neudeutsch: cornern), habe ich die Telefonzelle vor dem Plus-Markt angerufen.

Kurz: Meine Kleinstadt-Jugend war verdammt analog!

Aber keine Sorge: Das hier wird kein Früher-war-alles-besser-Mumpitz. Ich bin jeden Tag aufs Neue begeistert, die digitale Evolution der Kommunikation zu erleben. Andererseits bin ich auch dankbar dafür, Dinge erlebt zu haben, die peaux à peaux in Vergessenheit geraten. Und damit meine ich explizit nicht das Zusammenstellen von Mixtapes!

Mixtapes

Mixtapes

So habe ich neulich in meiner alten Holztruhe gestöbert, in der alte Fotos, Urkunden, Postkarten und Briefe vor sich hin welken, und bin auf eine Mappe gestoßen, die ich komplett vergessen hatte. In ihr: knapp 40 Briefe von Lisa aus Exeter, Nicoline aus Marcq-en-Barœul und anderen Brieffreundinnen, die mir als junger Teenager über eine Art Club an der Schule vermittelt wurden. Ein wahrlich anachronistischer Teil meiner analogen Jugend also.

 

Diese Brieffreundschaften mit im Grunde ja völlig unbekannten Menschen waren schon etwas Besonderes und tatsächlich mit viel Zeit und Aufmerksamkeit verbunden. Bevor man antwortete, las man einen Brief noch zwei- oder dreimal. Man suchte beschriebene Orte im Diercke Weltatlas und versuchte, ohne Google herauszufinden, was denn wohl ein Shepherds Pie ist (1987 war das gar nicht so einfach).

Ich bin rückblickend heute sehr dankbar für diese Erfahrung und vielleicht hatte all das ja sogar einen klitzekleinen Einfluss auf meine späteren beruflichen Ambitionen in der Kommunikation.

Alte Briefe

Denn PR ist und bleibt bei allen genialen KI-Tools und digitalen Kanälen ein People Business.

Und ein People Business lebt von Persönlichkeit im Dialog. KI kann verdammt viel, aber echte persönliche Nähe schaffen, dafür braucht es mehr. Wie wollen wir uns künftig im Schriftverkehr von Künstlicher Intelligenz abgrenzen, wenn nicht durch eine gesunde Portion Empathie und Natürlichkeit. (Insbesondere letzteres fehlt übrigens heutzutage sehr oft, wenn einige Menschen versuchen, in Social Media nahbar zu werden. Aber das ist ein anderes Thema.)

Die Frage ist: Nehmen wir uns die Zeit dafür heute noch häufig genug? Und wie viel Nähe lassen wir selbst und der Mensch gegenüber überhaupt zu? Eine launische Fußball-Bemerkung in einem Pitch an einen Redakteur, der bekanntermaßen Fan des FC Bayern ist, geht sicher noch leicht von der Hand. Aber passen persönliche Gedanken oder Anekdötchen in die Kommunikation mit Kunden, Redaktionen, Kongressverantwortlichen …? Die Antwort ist sicherlich ein klares Jein! Wohl dem also, der es schon früh (oder überhaupt) gelernt hat, Briefe an Fremde zu verfassen und das Glück hatte, solche zu erhalten. Dem gelingt es wahrscheinlich leichter, nicht nur allgemeine Informationen zu einem konkreten Projekt zu liefern, sondern eine Verbindung zum Gegenüber herzustellen (gleichwohl nicht immer, das ist klar; Grüße gehen raus an betroffene Redaktionen). Wann habt ihr (als PR-Agenturisti) zum Beispiel das letzte Mal einer Journalistin oder einem Journalisten Vorschläge für Themen oder Formate oder Feedback auf Artikel geliefert, die gar nichts mit Euren Kunden zu tun hatten, ohne dabei fies zu scharwenzeln?

 

Meine großen Söhne hatten nie Brieffreunde. Sie sind typisch für eine Generation, die total ungern andere Menschen anruft und sich wahnsinnig schwer damit tut, E-Mails an fremde Menschen zu verfassen. Ob ich das Thema Brieffreundschaft beim wesentlich jüngeren K3 vielleicht mal in die Wege leiten sollte? Gibt es solche Clubs eigentlich noch? Und was machen Lisa und Nicoline wohl heute? Und wann und warum endete der Schriftverkehr eigentlich? Ich habe die Briefe leider achtlos in besagter Mappe verwahrt und müsste sie mal chronologisch ordnen. Eine Aufgabe für das Rentenalter? Vielleicht. Gerade jetzt aber ein schöner Anstoß, sich beim Schreiben wieder etwas mehr Zeit zu nehmen, ein Prise mehr von sich preis- und mitzugeben. Denn alles andere macht eh ChatGPT.

 



Über Sebastian

Sebastian ist Creative Director und kommt ursprünglich aus der Musikbranche, wo er sich sehr früh der Arbeit mit social networks gewidmet hat. Bevor er zu den Frischen Fischen stieß, hat der studierte Betriebswirt fünf Jahre für die Mobile Marketing Agentur Goyya Kampagnen konzipiert und betreut. Sebastian ist passionierter Kinder- und Jugendfußballtrainer.


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